Endlichers Votiv-Bilder. Gaben an die Wahrnehmung
Die Votiv-Bilder von Michael Endlicher, wenn es denn einfache Bilder wären, fügen sich nicht in den herkömmlichen Gebrauch der Artefakte. Nicht einmal ihr Oben und Unten ist vorgegeben, ihre Hängung kann einzeln oder in Gruppierung erfolgen und neuerdings türmen sie sich auch zu raumfüllenden Skulpturen.
Malerei wird zu Skulptur, aber diese Grenzüberschreitung bleibt nicht die einzige, hat doch Endlicher seit langem den einen Fuß im Bereich von Schrift und Literatur und den anderen in der Malerei. In beiden Fällen geht es um Kommunikation.
Malerei und Schrift türmen sich zu einem Aufbegehren gegen die Konvention. Bilder, die nicht ursprünglich als Skulptur gedacht waren, Schrift, die nach einem außermalerischen Konzept gesammelt, als kurze Worte von vier Buchstaben ergänzend oder sogar oppositär eingesetzt werden und dazu noch als plastische oder jedenfalls räumliche Erweiterung zum Einsatz kommen, versammeln sich zu einem eigentümlichen Konglomerat.
In der Wiener Szene arbeiten mehrere Künstlerinnen und Künstlern in ihren Malereien, Skulpturen und Graphiken mit der Schrift. Unter ihnen ragt Michael Endlicher durch die ihm eigene Verbindung von konzeptuell gewählter Schrift mit Malerei heraus. Sein Interesse gilt dem großen Bereich der optischen Wahrnehmungsmechanismen. Mit den Augen lesen wir gleichermaßen Schrift wie auch bildliche Informationen. Es geht also um optische Wahrnehmung in zwei Zeichensystemen. Beide Nachrichten können sich relativ konkret vermitteln oder auch in einem vagen Bereich verharren. In jedem Fall aber bildet die über die gebotenen Zeichen gewonnene Information lediglich einen Anhalt, oder die Idee einer Richtung, in die es gehen könnte. Den Betrachterinnen und Betrachtern bleibt ein großer Raum um die Information mit dem eigenen Erfahrungsschatz abzugleichen und zu integrieren. Durch diesen Vorgang verändert sich die Botschaft, sie individualisiert sich gleichsam und als Resultat entsteht ein ganzes Bukett an möglichem Verständnis beim Publikum.
Marcel Proust beschreibt diesen Vorgang für die Literatur: „In Wirklichkeit ist der Leser, wenn er liest, ein Leser seiner selbst, dem das Werk vom Autor nur als eine Art ‚optisches Instrument‘ gereicht wird, auf dass er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte erschauen können.“ Und Jorge Luis Borges stößt ins selbe Horn, wenn er meint, dass Lesen Denken mit fremden Gehirn sei.
Insistierend, mit Akribie und gleichzeitig spielerisch bearbeitet Michael Endlicher dieses Phänomen, das sich so faszinierend wie schwierig erweist, rührt es doch an ein Grundproblem der Menschheit, an eine der schwierigsten Aufgaben der Zivilisation und die heißt Kommunikation. Auch wenn das Bonmot von Paul Watzlawick „Man kann nicht nicht kommunizieren“ zutrifft, so heißt das nicht zwingend, dass uns immerwährende Kommunikation auch glückt.
Endlicher verfügt über zwei Kommunikationssysteme, ein bildnerisches und eines über die Schrift. Der malerische Akt kann sehr spontan ablaufen, kann einigermaßen gegenständlich sein, bleibt meist aber abstrakt, wobei er große Sensibilität für die Oberfläche, für das Haptische und auch für die Stimmungslage jeder Bildfläche beweist. Die Oberfläche gleicht einer Haut als gleichfalls wahrnehmendes und empfangendes Organ. Diese Malereien aus Acryl und Lack auf Leinwand entstehen in Serien gleichen Formates, im vorliegenden Fall der Votivbilder sind es 50x40 cm. In diese Hautflächen werden die Buchstaben bzw. Zahlen eingestanzt. Damit kommen wir zur Schnittstelle der Medien Bildende Kunst und Literatur, die beide mit Zeichensetzungen arbeiten. Das Werkzeug der einen ist die Schrift, die über einigermaßen festgelegte Bedeutungsinhalte ihrer Zeichen verfügt, während das bildende Vorgehen freier gestaltbar erscheint und auch auf die Gestalt der einzelnen Buchstaben als bildnerische Erscheinungen eingehen kann. Diese Kombination hat gerade in Österreich eine lange Tradition mit prominenten Vorgängern aus der Wiener Gruppe und auch die Nähe zur Konkreten Poesie ist augenfällig. Neben Ernst Jandl oder Eugen Gomringer haben große Künstler dieser Richtung wie Ian Hamilton Finlay oder Jiri Kolar Meilensteine gesetzt. Auch in der Konzeptkunst finden sich wichtige Vorläufer, wie der in Wien bis vor kurzem prominent vertretene Lawrence Weiner (Flakturm Esterhazypark), aber auch On Kawara, Jenny Holzer und Hanne Darboven, während im österreichischen Bereich Josef Bauer, Heinz Gappmayr, Eva Choung-Fux, Eva Schlegl oder Drago Prelog zu nennen sind.
Endlicher ist also nicht allein, aber er macht etwas ganz Neues. Er spielt mit den Bedeutungen der Worte oder negiert sie, indem er Buchstaben und Zeichen wegen ihrer visuellen Erscheinung ins Bild aufnimmt. Wir bleiben dabei oft im Unklaren, ob das Zeichen aus der Konvention seiner Bedeutung entlassen oder seiner ursprünglichen Inhaltlichkeit verpflichtet ist. Indem er die Bildfläche durchbricht, entzaubert er einerseits die Illusion einer malerisch geschaffenen, räumlichen Tiefe, schafft aber gleichzeitig realen Raum, durch den das Bild zum Objekt mutiert.
Mit dem Überbegriff der „Votivbilder“ verweist Endlicher auf die alte Kulturtechnik der Opfergabe, die mit einer Bitte oder einem Dank an die göttliche Sphäre verbunden ist. Die Tradition reicht bis in die Steinzeit zurück und erstreckt sich über die Antike bis ins Christentum. Dort erreicht der Brauch der Votivgabe in Form von Bildern oder Skulpturen, ja sogar ganzen Architekturen im Barock einen Höhepunkt und setzt sich über die Volkskunst bis ins 20. Jahrhundert fort. Die Verknappung der transportierten Botschaft auf ein Organ, einen Körperteil oder einen in wenigen Worten skizzierten Vorfall um derentwillen die Votivgabe erfolgt, lässt breiten Interpretationsspielraum. Welche Geschichte bildet den Anlass für das Votiv? In den Köpfen des mutmaßenden Publikums werden die unterschiedlichsten Fakten und Handlungsabläufe entstehen, das ursprüngliche Votum subjektiviert sich in der Rezeption.
Sinn als einerseits vorgegebener Bedeutungsinhalt und andererseits als solcher, der sich erst durch neue Konstellationen und Interpretationen herauskristallisiert, oszillieren im Werk Michael Endlichers, und dies gilt ganz besonders für die Werkgruppe seiner Votivbilder. Als Basis liegt ihnen eine große Vielfalt an in sich stimmigen Malereien zugrunde, die unterschiedliche stilistische Einflüsse zeigen. In diese Malereien sind jeweils zwei Worte mit vier Buchstaben gestanzt. Diese Begriffe eröffnen wie Klammern ein Feld, innerhalb dessen sich eine Situation, eine Geschichte oder einfach auch nur eine Stimmung spiegelt.
Sind die Votivbilder nicht wie zuletzt als Turm in einen skulpturalen Zusammenhang eingebunden, so obliegt es der Betrachterin und dem Betrachter, ob im Wortpaar NADA-TODO das Nichts oder das Alles oben sein soll, die Bedeutung verlagert sich damit diametral. Dasselbe ergibt sich für die anderen Wortpaare, sie können aus verschiedenen Sprachen stammen oder aus Abkürzungen entstehen wie im Paar SWAT-TWAT, in dem eine gewisse Haltung des einen zum anderen mitschwingt. Durch einen einfachen Felgaufschwung der Sprache wechseln die Worte den Kulturkreis im Beispiel von ISIS und SISI. Immer wieder tauchen auch ironische Konstellationen auf wie bei den beiden nierenförmigen Gebilden mit den Worten LUCK-FATE oder bei BOBO-HOBO. Aus der Reihung der einzelnen Bilder ergibt sich ein Ablauf solcher, nennen wir es „Gestimmtheiten“, die ein übergeordnetes Ganzes ergeben.
Endlichers Kunst eignet ein unkonventionelles Denken, das nicht zuletzt auf der Anti-Kunst der Dadaisten fußt, mit der sie die Skepsis gegenüber dem allgemeinen Kunstverständnis bei aller konzeptuellen Klarheit teilt.
In seinem Essay „Die Bibliothek von Babel“ hat Jorge Louis Borges schon 1941 die Welt als eine ungeheure Bibliothek dargestellt, als eine Versammlung aller Bücher aus allen Gebieten der Literatur, aufgestellt nach dem Zufall und für den Großteil der Menschen unverständlich. Endlicher weist mit seinen Untersuchungen zur Wahrnehmung zwischen Text und Bild nicht nur auf die babylonische Sprachverwirrung hin, sondern eben auch auf diese Erzählung, in der die Vollständigkeit des Wissens, der Literatur und Poesie in immer neuen Zusammenhängen und Verbindungen intertextuell dargestellt wird. Alles, was ist, kann – so unverständlich es scheinen mag – in einem anderen Zusammenhang eine sinnvolle bis hin zu einer göttlichen Bedeutung erlangen. Es ist die Schrift, das literarische Zeichen als Sinnbild für das menschliche Streben nach Erkenntnis, die er letztlich nie zur Gänze erreichen wird. Kunst zeigt mehr als das Sichtbare, darauf hat Robert Fleck in seinem Buch „Was kann die Kunst?“ hingewiesen und das beweist auch die Gruppe der Votivbilder.
Michael Endlicher ist ein Bildner und Wortschöpfer, ein Schriftsteller und Schriftsetzer, der Kunstschrift und Schriftkunst als Werkzeuge benutzt, er ist ein Schöpfer von neuen Wirklichkeiten – eben ein plurifakter Künstler, und es bleibt unserem individuellen Verständnis überlassen, was er damit meint.
Dr. Berthold Ecker, Kunsthistoriker, im Wien Museum/MUSA Sammlungsverantwortlicher für Kunst ab 1960.