Michael Endlicher: Die Gelassenheit des Kartenhauses
Der Wiener befüllt die Galerie Peithner-Lichtenfels mit seinem geworteten Kosmos. Und baut ein Kartenhaus.
Ist der Typ überhaupt ein Maler? Oder schreibt er bloß auf Leinwand? Abgesehen davon, dass er sichtlich auf Schablonen steht. Buchstabenschablonen. Und seine Wörter und Botschaften außerdem in Alubleche hineintreibt wie Kühe in den Stall. Oder vielleicht weniger wie Kühe in den Stall als wie Nummern in ein Autokennzeichen. Wurscht. In der Galerie von Georg Peithner-Lichtenfels gibt’s jedenfalls jede Menge Lesestoff. Weil das eigentliche Material von Michael Endlicher nun einmal die Sprache ist.
Aus der hat er sogar ein Haus gezimmert. Okay, aus seinen „Buchstabenbildern“ (Lackspray und Acryl auf Leinwand). Und keines, in dem man wohnen kann. Vielmehr ein Kartenhaus. Ein dreigeschossiges. Das jetzt auf dem roten Teppich seinen großen Auftritt hat. Als Stargast raumgreifend posiert.
Ist der Konstruktivismus dollysicher?
Ein sinnvolles Wort kann man ebenfalls herauslesen (wenn der Blick die Stockwerke hochkraxelt): „Ataraxia.“ Das epikureische Ideal der unerschütterlichen Seelenruhe. Die hat man eh nötig beim Bau eines Kartenhauses. Oder zumindest ruhige Hände. Schließlich ist das ein Geschicklichkeitsspiel. Bei dem am Ende ein ziemlich instabiles Bauwerk herauskommt. Geradezu ein Symbol der Hinfälligkeit.
Hm. Hat der Künstler, der über ein abgeschlossenes Studium der Betriebswirtschaft verfügt, seinen fragilen Konstruktivismus irgendwie fixiert? Mit Klebstoff zum Beispiel? Oder heimlichen Schrauben? Das Kartenhaus dollysicher gemacht? (Der Galerist hat nämlich ein sehr aufgewecktes Haus- und Galerietier namens Dolly.) Offenbar nicht. Endlicher: „Potenziell könnt’s der Hund zum Einsturz bringen. Was auch nicht schlecht wäre. Dann hätten wir einen kathartischen Moment.“ Ja, und es wäre ein fabelhafter Test. Wie es um seine eigene Ataraxia bestellt ist. Mit welcher Gelassenheit er Schicksalsschläge und höhere (vierbeinige) Gewalt hinnimmt.
Tour contextuelle heißt die kompakte Ausstellung, die Station macht bei den wichtigsten Werkgruppen im OEuvre des 1960 geborenen Wieners, den man eventuell einen bildnerischen Sprachphilosophen und diesbezüglich einen praktischen Theoretiker nennen darf. Gleich zu Beginn können sich ein paar Bilder nicht entscheiden, wo bei ihnen oben und unten ist. Bzw. liegt das ganz im Ermessen des Betrachters. Je nachdem, welche Aussage aktuell auf ihn zutrifft und welche er deshalb im Gegenzug auf dem Kopf stehen lassen möchte. („Ich kann/Ich muss“, „Ich reise/Ich urlaube“, „Ich chatte/Ich tratsche“, „Ich genieße/Ich strebe“ . . .)
Komplementäre Pärchen. Quasi in Missionarsstellung. Also insgeheim erotische Darstellungen? Na ja, höchstens intellektuelle Erotik. Und eindeutig nix für Entscheidungsschwache. Die werden aus dem Baselitzen gar nimmer rauskommen. (Georg Baselitz, das ist der, der bekannt dafür ist, seine Gemälde verkehrt herum aufzuhängen, seine Motive auf den Kopf zu stellen.)
Die semiotische Sphinx
In der mittlerweile recht umfangreichen Serie „signs“ (drei Arbeiten daraus wurden exemplarisch ausgewählt), da treiben es die Buchstaben und Satzzeichen wiederum bis zur Unleserlichkeit miteinander. Überlagern sich zu hybriden Super-, ach was: Hyperzeichen. Zu Chimären, semiotischen Sphingen, deren Rätsel ihr Erzeuger („Es geht mir ausschließlich darum, ein möglichst starkes Zeichen zu generieren.“) mitunter selber nicht mehr lösen kann. Und drum auf der Rückseite nachschauen muss, aus welchen Bestandteilen er sie zusammengebastelt hat. Aha, die eine aus einem Neuner, einem Vierer, einem Frage- und einem Rufzeichen. (Hinten auf der Leinwand hat er die Zutaten notiert.)
Klingt nach einer trockenen Angelegenheit. Ist es freilich nicht. Und nicht nur, weil das eine oder andere Opus glänzt wie ein feuchter Traum, ein schweißnasser. „Ich bin ein großer Fan von Lack“, outet sich Endlicher als jemand, der ein sinnliches Finish zu schätzen weiß. „Als würd’s schwitzen, das Bild. Ich bin ein bissl ein Oberflächenfetischist.“ Und ein Grapscher ist er. Einer, der eine unübersehbare Freude hat am Angreifen, am handfesten Be-greifen. „sign #34“, das die Anmutung eines Grundrisses hat, eines Plans, ist mit Fingertappern übersät. Der Gebrauch des Hirns und dabei die Finger zu benutzen, das schließt sich eben nicht zwangsläufig aus.
Diverse Zeichenkombinationen und formale Lösungen spielt Endlicher durch. Die unterschiedlichsten stilistischen Ausformulierungen. Von der grafischen Schärfe bis zum gestisch Malerischen und zur Raumillusion, die die Fläche aufreißt, während das Mischzeichen zu einem Ausblick ins Unendlichkeitsblau wird, zu einem fehlenden Puzzleteil.
Wie man dem lebenden Menschen die Bilder erklärt
Joseph Beuys (der Mann mit dem Filzhut und dem erweiterten Kunstbegriff) hat dereinst einem toten Hasen seine eigenen Bilder erklärt (ausnahmsweise ohne Filzhut, dafür mit komplett vergoldetem Kopf), Kunstkritiker und –innen dagegen erklären die Bilder, die sie nicht einmal selbst gemalt, lediglich selbst gesehen haben, lieber lebenden Menschen. Vorzugsweise mit oberg‘scheiten Sätzen, die allein sie sinnerfassend lesen können.
Und die wirft Endlicher ihnen kurzerhand wieder zurück. Respektive hat er einzelne davon neu kontextualisiert. In seine Bilder transferiert. Lädt ein wolkig abstraktes All-over mit Bedeutung auf: „Dieses Bild visualisiert die allgemein akzeptierte banale Einsicht, dass es außerhalb der Textualität nichts Äußeres mehr gibt . . .“ Und nachher noch irgendwas mit einem „Signifikanten“ und dass man es nie mit der Realität selbst zu tun hätte.
Alles klar. Da kennt sich wer mit der Zeichentheorie aus. Gibt uns Nachhilfe in Semiotik. Will uns den Unterschied nahebringen zwischen der Ausdrucksebene eines sprachlichen Zeichens und der Inhaltsebene, zwischen dem Bezeichnenden und dem Bezeichneten, dem Signifikanten und dem Signifikat. Und was bedeutet das jetzt in Hinblick auf das "„olkig abstrakte All-over-Painting“? Dass es sich nicht um „richtige“ Wolken handelt? Oder dass Kunstkritik eine Form der Onanie ist?
Der Künstler räumt ein, dass man als Betrachter „schon sehr gefordert“ ist. Andererseits: „Du musst es ja nicht lesen.“ Nachsatz nach einer gedankenstrichlangen Pause: „Aber wir sind so konditioniert.“ He, lacht der Hans Moser etwa die Kunstrezensenten und damit auch mich aus? Zwischen seinem vervielfältigten, volkstümlich erheiterten Gesicht treiben Reizwörter herum wie „magisch“, „Wirkkraft“, „primitiv“ oder „mythologisch“, und sie vereinen sich zu einem abgehobenen Satzgebilde, das der, der es ausgewählt hat, „manchmal immer noch nicht“ versteht („oder auch wieder nicht mehr“). Und wenn ein Bild dermaßen simpel ist, dass das doch wohl nicht bereits alles gewesen sein kann? „Dieses Bild eröffnet ein Spiel- und Übungsfeld, auf dem jeder verführt wird, sich der Komplexität des Einfachen hinzugeben.“
Die onomatopoetische Sau rauslassen
Ein Poet ist Endlicher sowieso. Ein Onomato-Poet. Was für ein Poet? Ein Lautmaler. Der Klänge nachahmt. (Während man mit dem Pinsel, diesem leisen Streichinstrument, ja eher eine Lautlos-Malerei anfertigt.) Auf alle Fälle ist er der Verfasser der „Onomatopoetischen Kennzeichen“. Von Kfz-Nummerntafeln, die zwar nicht für die Straße zugelassen sind, allerdings nichtsdestoweniger auf Fahrzeuge montiert waren. Auf Autos, die 2007 im Technischen Museum geparkt haben. (Im Rahmen der Sonderschau „Spurwechsel – Wien lernt Auto fahren“.) Als installativ zu einem Stau geronnener flüssiger Verkehr.
Auf einer Wand im Hinterkammerl der Galerie sind die Taferln nunmehr zu einem Lautgedicht arrangiert, zu einer Geräuschkulisse aus Dopplereffekt beim Überholen („NNNNNNNJAOOOO“), heulenden Motoren („VROUUMVROUUM“) und fluchenden Lenkern („HEEEEEEAAAAAST“, „OOOOOAAAAAASCH“).
Dass er ein Meister der Kurzfassung ist, beweist der leidenschaftliche Manifestschreiber („Manifeste sind immer wichtig. Braucht man.“) und Herunterbeter von Litaneien nicht zuletzt mit seinen originellen „Dramenblechen“. Drei Wörter mit derselben Quersumme (A = 1, B = 2 . . . Z = 26) prägen sich als numerologische Trinität ein, erzählen von der Gewaltbereitschaft der Buben („42 BOY GUN WAR“), dem Figurfetischismus der Mädchen („46 GIRL BODY SHAME“) und anderen nicht unbedingt friktionsfreien Beziehungen („62 GOTT MENSCH KRISE“). Attestieren Zusammenhänge, Verwandtschaften, flotte Dreier, die im Alphabet schlummern und bloß darauf warten, von einem Kryptologen wachgeküsst zu werden.
Nicht, dass es nicht noch minimalistischer ginge. Vier Vokale hat Endlicher im Weißen Rauschen eines Fernsehers entdeckt (indem er den Rest des alten Monitors, der folglich kein moderner Flatscreen ist, sondern ein „Fatscreen“, mit schwarzer Folie abgeklebt hat): EUOI. Ein Wahlspruch wie das „A.E.I.O.U.“ der Habsburger? Eine Institution der Europäischen Union wie der EuGH? Falsch. Ein griechisches Wort. Der ekstatische Ausruf von Bacchanten. Und wie spricht man das aus? „Joi, angeblich.“ Ein konzeptueller Pornofilm?
Die Ver-aber-ung des Umweltschutzes
Zum Schluss herrscht Untergangsstimmung. Im finalen Sieben-Minuten-Video „AberAberAber“. Während ihm der steigende Meeresspiegel schon bis zum Hals steht (gut, in Wahrheit der Neusiedler See), vervollständigt der Mensch in Gestalt des Künstlers den Satz „Wissen Sie, ich bin natürlich für den Schutz der Umwelt . . .“ litaneiartig mit 60 verschiedenen Ausflüchten und Einwänden. („Aber die Windräder sind ja wirklich nicht schön“, "„Aber die Grünen sind doch auch Pharisäer“, „Aber ohne Plastik bricht die medizinische Versorgung zusammen“, „Aber all diese Einschränkungen dürfen uns halt nicht in die Steinzeit zurückführen“, „Aber das Waldsterben in den 80er Jahren ist auch nicht eingetreten“, „Aber Klimaschutz ist Luxus, den wir uns gerade jetzt nicht leisten können“ . . .)
Eine tiefgründige Ausstellung ohne Happy End und trotzdem mit viel Humor. Galgenhumor? Immerhin sauft die Welt, mit der die sprachlichen Zeichen, die Signifikanten und Signifikate so innig verbunden sind, womöglich bald ab. (Dolly hat das Kartenhaus übrigens nach wie vor nicht umgerissen.)
Claudia Aigner, Wiener Zeitung, Dezember 2021/22