Von Arcadientia bis Zöllitrophismus. Das Glossar von CEMS
1 Arcadientia
Antike forever. Für Arcadientianer (Arcadys) endet das Nachleben der Antike gemäß Aby Warburgs Lehrmeinung mitnichten in der Renaissance. Vielmehr reinkaniert für diese „das altertümliche Füllhorn an ikonografischen Augenöffnern“ antizyklisch zum Kunstmarktgeschehen. Für Arcadys gilt allzeit die Schuldvermutung der Unterdrückung des klassischen Schönheitsideals. Dieses unter allen Umständen in allen Lebensbereichen (wieder)beleben und durchsetzen zu wollen, gipfelt in neo-manieristischen Manifestationen eines apotropäischen Schönheitskults.
2 Butohphottie
Die holistische Performancepraxis im Geiste eines westlich unterwanderten Butoh zielt auf das Equilibrium von Körper, Geist und Energie. Im performativen Akt wird exakt jene Menge an Nahrung zugeführt, die der Körper während der intensiven Bewegung verliert, Energiehaushalt und Eigengewicht bleiben konstant. Als dauerhaftes Memento des komplexen Spiels repräsentieren einfache, ausbalancierte Materialien das zugrundeliegende Eigengewicht der Darsteller.
3 Chass'mychdin
Kunst kommt vom Kuratieren! Seit Harald Szeemanns Ausstellung When attitude becomes form (1969) schauen wir durch theoretische Ordnungsysteme. Die archaische Schöpfungsarbeit des Künstlers? Domestiziert zur Diskursillustration! Dieser Befund der weltweit agierenden Bewegung Chass'mychdin (paschtunisch für Dieb, Saboteur) mündet folgerichtig in ephemerer Antitheorie. Man setzt auf nihilstische Accrochagen eines prekären Defaitismus, Abhängen erhält seinen ursprünglichen Sinn zurück. Dem Künstler wird wieder einmal der Weg in die Anarchie gewiesen.
4 Dumolär
Auflösung – und Wiedergeburt. Die Welt besteht aus Molekülen, Atomen und sonstigem Nanozeug. In diese suchen dumoläre Praktiken ihre Objekte zu verwandeln – zu vermahlen, zu verbrennen, zu pulverisieren, um sie sodann mittels diverser Häute und Därme in nie gesehene Formen zu transformieren. In ihrem Anspruch, sich konsequent an den unlösbaren Fragen der Menschheit durch tätiges Denken abzuarbeiten, beweisen Dumoläriker, dass tatsächlich alles ein Ende hat – nur nicht die Wurst.
5 Hollibusta Art
„Wir ficken, also sind wir.“ (Peter W. Bohringer). Für die Hollibustaz regiert Sex die Welt – entweder er manifestiert sich in einer permanenten Triebbefriedigungsschleife oder in seriellen tantrischen Erlösungen. Das öffentliche, prozessorientierte Arbeiten konzentriert sich auf folgende Fragestellungen: Wie bilden sich im Wandel befindliche Sexualgebräuche zwischen privaten und öffentlichen Räumen, zwischen individuellen und gemeinschaftlichen Sphären ab? Wie verändern gesellschaftliche und ökonomische Prozesse das Bild der Erotik bzw. den pornographischen Lebensraum?
6 Huloquienic Art
Sein oder Nichtsein – jedenfalls ohne den Menschen. In der Huloquienic Art manifestiert sich ein kollektives Unterbewusstsein des Universums, materialisiert sich das evolutionäre Pathos des Urknalls. Was ist zu tun? Rechnet zurück in der Zeit bis weit vor die Menschwerdung bzw extrapoliert die herrschenden Untergangsszenarien in eine ferne Zukunft ohne Homo sapiens. Der Kunstraum, unendliche Weiten...
7 Juhnaulietät
Maximierte Persönlichkeitsüberschätzung. Im Geiste des Camp wird die Überhöhung der romantischen Persona bis zum Geht-nicht-mehr vorangetrieben – und schließlich ins maßlose Gegenteil verkehrt. Zu Beginn können hysterische Eskapaden in Wort, Bild, Ton, Mode, Lebensstil und Körperkult noch Erfüllung versprechen, zuletzt endet der Juhnaulier als weltflüchtiger Träger von Körperprothesen einer ins Abstrakte zielenden Funktionsverweigerung.
8 Lavouriplenkunst
Exemplarische Ausdünnung. Sie stößt zum innersten Kern, zur Essenz jedes Werks vor – im materiellen und im metaphorischen Sinn. Die Artefakte werden ausgewaschen, gebleicht, skelettiert, zersetzt bis sie ihre archetypischen Grundzüge offenbaren. Die Vorgänge werden in standardisierten Diskursen reflektiert, der Akt und das Artefakt gleichsam auch „zerredet“, bis die alten überkommenen Wahrnehmungen entweichen und Platz machen für eine neue revolutionäre Sicht auf Leben und Kunst.
9 Malmedine
Das Nomadische, Road Art. Sie zelebriert die Praxis des Möglichen und generiert handliche, die Sinne berührende Artefakte im Fokus einer ruralen Convenience. Allzeit mit dabei, immer für einen Moment der herzerwärmenden Erinnerung gut, beweist Malmedine, dass Bewegung (in der Kunst) nicht zwangsläufig etwas mit Veränderung zu tun haben muss – es genügt vollauf, einfach unterwegs zu sein.
10 New Carthusians
Wortdekontaminierung im Anthropozän: Mit einem sprachlosen Aktionismus des Analogen bekämpfen Neo-Karthäuser die Kolonialisierung des Common Sense durch die hypertrophe Geschwätzigkeit des Digitalen. „Sprecht nicht, schreibt nicht, tötet die überkommenen ‚Sprachen’ in der Kunst von heute! Perpetual Pantomime Performative Play!“ – so das einzige jemals verlautbarte Statement in Gebärdensprache. Tätiges Schweigen als mundane Rituale einer haptikalen Stille gegen die Kakophonie der globalisierten Antireflexion.
11 Osmotante Praxis
Transformation total. Alles ist Wandel, außer der Osmotanz. Ihr Paradigma lautet: Jedes Ding gilt als Embryonalum, in ihm steckt ein Kunstwerk, das zum Vorschein gebracht werden muss. Im Wege einer intellektuellen Fermentation werden den Dingen zunächst kenntlichmachende Eigenschaften ausgetrieben, wobei neben dem Ergebnis bereits der Prozess als Werk zu verstehen ist. Bekannt ist das osmotante Verfahren des Einpflanzens bzw. Beerdigens, das ungeahnte soziale Plastiken während der oft jahrelangen Transformation des „Vorkunstwerks“ entstehen lässt.
12 Parasophanie
Der Beobachter als neuer Gott. Information als elementarer Grundbaustein der Welt, aber auch als treibende Kraft einer melancholischen Transzendenz des Halbwissens. Die panische Lust vor der Auflösung alles Vorstellbaren endet in holistischen Soziologien, die, wenn schon nicht Sinn, so doch einen Notfallsplan für das Hier und Jetzt versprechen. Soziale Medien generieren Zerrbilder der Wissenschaft. Sie bereiten den Boden für nebulose Bebilderungen des Immateriellen, für eine beliebige Sichtbarmachung des Unsichtbaren: kleinmütige Variationen jahrtausendealter Wahrnehmungsmuster verenden in kosmischer Banalität.
13 Post-Gender-Systeme
Menschmaschinen als biopolitische Werkzeuge polymorpher Informationsschleifen. Der radikal befreite kodifizierte Körper ist nicht mehr die Ressource für Aneignung und Einverleibung durch den tyrannischen Kunstgeschmack des weißen kapitalistischen Patriarchats. Aus Repräsentation wird Simulation: Golem(na) und deren postgeschlechtliche Cyborgs überpowern die integrierten Schaltkreise des Weltsimulacrums. Digitale Existenz versus suizidaler Biomasse.
14 Postkapitalistischer Ambivalenzaktivismus
Systemtheorie re-reloaded: Soziopoetische Praktiken eines inversiven Transversalitätsverständnisses, das aus der Kritik an imperialen Lebensweisen der globalisierten Mehrheitsgesellschaft mittels kryptoagitatorischer Funken Feuersbrünste eines neoegalitären Umsturzes legen will. Trotz hoher „Komplexitätsbewältigungskompetenz und energisch propagierter selbsterfüllender Rezeptionswirkung bleiben die künstlerischen Substrate oft konzeptuell blass, sinnlich ausgezehrt und politisch subaltern.“ (Claus-Dieter Detlefson)
15 Sisolwenztheorien
Gewinnmaximierung in Öl. Neoliberales Wirtschaftlichkeitsdenken wird zum Quell einer zeitgenössischen Popsch Art. Der Name wurzelt in einem Missverständnis in der Pop Art-Rezeption der Wiener Aktionisten in den 1970er Jahren. Heute wird er wieder als konzeptuelles Statement in den Sisolwenztheorien verwendet, so wie der „ehrbare Kaufmann“ als fruchtbares Fossil gedeutet wird. In produktivem Widerspruch zu dessen vorindustriell bewerteten Moralkanon entstehen Installationen und Objekte als neureiche Fußabdrücke einer weltweiten Spekulationskultur.
16 Soziophante Internationale
Von wegen Künstler: Jeder ist ein Diskurstheoretiker, hätte Beuys heute gesagt. Die Nullerjahre brachen eine antididaktische Revolution gegen die Hegemonie der selbsternannten Diskurspäpste und ihrer kastrierten Zwangsintellektualität vom Lattenzaun. Leider verfingen sich deren VerfechterInnen jedoch selbst in hermetischen Metaphernlabyrinthen und redeten dabei auch noch dem mittlerweile west-östlichen Götzen Kunstmarkt nach dem Krakenschnabel. Als protopartizipative Gegenbewegung ist die Soziophante Internationale zur demokratischen DIY-Ermächtigung des weltumspannenden Künstler- und Betrachterprekariats geworden: Kampf den Theoriepalästen! Friede den Autodidaktenhütten!
17 Syntoplexie
Konzeptuelle Ratlosigkeit gedeiht in Biotopen radikaler Dekonstruktion von Theorie und Praxis. Komplexitätswahn und hermeneutische Entropie neutralisieren jedes formale Anliegen, jede kritische Aussage und jedes ästhetische Versprechen. Redundanz rules und löscht jegliche Visualisierung. Das Werk existiert nur mehr in der Vorstellung.
18 Toutoubohne
Die Hoffnung stirbt zuletzt, vor allem jene auf eine „bessere Welt“. Konstitutiv wirkt die rituell zur Schau gestellte Überzeugung, relevante Schönheit und soziale Intelligenz ausschließlich in fremden Kulturen auszumachen. In der praktischen Anwendung von konzeptueller Ethnologie, zeitgenössischer Stammeskunst und einer Fetischisierung der historischen Arbeitswelt von Schamanen kristallisieren sich heilsbringende Utopien für soziale Randgruppen.
19 Traplemantik
Interventionistische Dämmung. In ihrer Fokusierung auf wärmende Stille verweist sie auf Beuys und Cage. Filz und verwandte Dämmmaterialien kommen in der Ummantelung von allem und jedem als Funktions- und Bedeutungsträger in rituellen Handgreiflichkeiten zum Einsatz. Der Traplemantiker stellt Stille her, er macht Ruhe sichtbar, um sie in den gemeinen Alltag zu tragen. Und sich darin zu verlieren.
20 Valokuvaajarottamena
Aufstand der Zeichen, diesmal gegen die Weltherrschaft des Konsumismus. Unter der Schirmherrschaft eines finnischen Banksy-Graffitos entwerfen StraßenkünstlerInnen seit Jahren Abbilder sozialer Plastiken einer zusehends schwindenden Gegenöffentlichkeit. Hochgezüchtet im Mahlstrom der globalisierten Memeproduktion verknoten diese „Rattenfotografenphänomene“ zwanghaft Bildvorgaben entfesselter Medien mit erinnerten Figuren des Paranoiden zu Aporien einer soziologischen Rollentheorie.
21 Zöllitrophismus
Die Kunst der Unterwerfung. Im Akt des maximal devoten, kritiklosen Huldigens einer nicht näher zu hinterfragenden Instanz wird ein rückwärtsgewandtes Kunstverständnis wiedergeboren. Gerade im Verlust des eigenen Gesichts angesichts irrationaler Heilslehren öffnen sich ungeahnte Ein- und Weitblicke auf das Leben und die Kunst(Produktion).
CEMS (Endlicher und Schwertsik), seit 2011