Letztes Kapitel
Über der Flußmündung hing eine schwarze Wolkenwand, und das träge Wasser, das die entferntesten Enden der Erde erreichte, floß dunkel unter einem bedeckten Himmel – schien ins Herz einer gewaltigen Finsternis hineinzufließen. Er stopfte den letzten Tabak in seine Pfeife, ging zum Bug und stand dort so lange mit vom Wind tränenden Augen, bis etwas sich im Abenddunst abzeichnete, durchscheinend zunächst und noch nicht ganz wirklich, aber dann immer deutlicher, und der Kapitän lachend antwortete, nein, diesmal sei es keine Chimäre und auch kein Wetterleuchten, das sei Amerika. Das Stampfen der Maschine setzte aus, und die Ankerkette fuhr donnernd hinab in die Stille der Bucht. Gegen Ende unseres Jahrhunderts bietet einem das Leben nur selten einen so unschuldigen, friedlichen Anblick wie diesen: Auf einem idyllischen Berg in Amerika sitzt ein Mann auf einem Eimer und fischt durch ein Loch im fünfundvierzig Zentimeter dicken Eis in einem See, dessen Wasser ständig erneuert und gereinigt wird. In seiner nassen Oberfläche blinkte das Sonnenlicht. Und dann, von allen Blöcken und Steinen befreit, wird die ganze Welt leicht und leichter, beginnt aufzusteigen, immer höher, zieht ihm sachte die Schnur aus der Hand und treibt mit den Rauchwolken davon. Sie fliegen der Gnade entgegen. Nach einer Weile stand er auf, zögernd und trotzdem so, als wolle er andeuten, dass er begriffen habe. Er verfestigte ein Ende der Schnur am Knöchel und machte sich auf in die Dunkelheit. Der Amerikaner lebt heute noch, und ihn kennt alle Welt.
Von unten erklangen gedämpft die Melodien von Geige und Klavier. Die Vorstellung war entsetzlich. In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr. Der alte Mann schlief und träumte von dem Löwen. Hyäne nichts dagegen. In jenem Moment beschränkten sich seine Schreie auf die Wiederholung eines einzigen, irrsinnigen Wortes von nur allzu offensichtlicher Herkunft: „Tekeli-li! Tekeli-li!“ Als ihn die Flammen endlich erreichen, lacht er so laut, wie er in seinem ganzen Leben nie gelacht hat. „Ich liebe! Ich liebe! Ich liebe!“ Wer der Macht beikommen will, der muß dem Befehl ohne Scheu ins Auge blicken und die Mittel finden, ihn seines Stachels zu berauben. Die Entscheidung bleibt offen. Manchmal kommt Wind auf, vor dem Regen, und schickt Vögel am Fenster vorbei, vorbeisegelnde Vögel des Geistes, die auf der Nacht reiten, seltsamer als Träume. Und er spielte mit sich selbst eine Partie, schmunzelnd, von Zeit zu Zeit auf den leeren Sessel gegenüber blickend und in den Ohren das sanfte Geräusch des herbstlichen Regens, der noch immer unermüdlich gegen die Scheiben rann. Keine Nacht dauert ewig. Und als er wieder zu sich kam, lag er flach auf dem Rücken am Strand im eiskalten Sand, aus einem niedrig hängenden Himmel regnete es, und draußen war Ebbe.
„Ja, ich bin zurück“, sagte er. Und während sie Zukunftpläne schmiedeten, schauten sie auf das Meer hinaus, und die großen und kleinen Wellen rauschten dazu an den Landesgrenzen. Und welcher wohlmeinende Mensch würde ihm, dem einsamen, diese wahrhaft legitime, diese so lange entbehrte Braut mißgönnt haben? „Ich komme“, antwortete er ihr und kehrte der Aussicht den Rücken. Und dann gehen sie beide ins Haus, in dem der Murkel schläft. Friede schwebte über ihrer Stätte, heitere, verwandte Engelsbilder schauen vom Gewölbe auf sie herab, und welch ein freundlicher Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen. Aber nun rastet eine Weile! „Klingeling?“, sagte er. Manchmal geschah überhaupt nichts. Es kamen keine Briefe mehr. Wenigstens würde ich, wenn mir noch Kraft genug bliebe, um mein Werk zu vollenden, in ihm die Menschen (und wenn sie daraufhin auch wahren Monstren glichen) als Wesen beschreiben, die neben dem so beschränkten Anteil an Raum, der für sie ausgespart ist, einen im Gegensatz dazu unermeßlich ausgedehnten Platz – da sie ja gleichzeitig wie Riesen, die, in die Tiefe der Jahre getaucht, ganz weit auseinanderliegende Epochen streifen, zwischen die unendlich viele Tage geschoben sind – einnehmen in der Zeit. Und der zwölfte Schlag der Mitternacht erklang; der zwölfte Schlag der Mitternacht am Donnerstag, dem elften Oktober neunzehnhundertachtundzwanzig. Alles war gut. Ja.
Der Text ist eine Montage aus den letzten Sätzen folgender Bücher:
Joseph Conrad, Herz der Finsternis
Daniel Kehlmann, Die Vermessung der Welt
Ian Flemming, 007 James Bond – Tod im Rückspiegel
Phillip Roth, Der menschliche Makel
Vladimir Sorokin, Ljod – Das Eis
Christoph Ransmayer, Morbus Kitahara
Thomas Pynchon, Gegen den Tag
Markus Werner, Die kalte Schulter
José Samarago, Alle Namen
Alfred Kubin, Die andere Seite
Milan Kundera, Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
Thomas Bernhard, Alte Meister
Franz Kafka, Das Urteil
Ernest Hemmingway, Der alte Mann und das Meer
Wolf Haas, Silentium!
H.P. Lovecraft, Berge des Wahnsinns
Elias Canetti, Die Blendung
Emmanuelle Arsan, Emmanuelle oder Die Schule der Lust
Elias Canetti, Masse und Macht
Peter Høeg, Fräulein Smillas Gespür für Schnee
Don de Lillo, Der Omegapunkt
Joseph Roth, Radetzkymarsch
Terry Pratchett, Der Zauberhut
David Foster Wallace, Unendlicher Spaß
J.R.R. Tolkien, Der Herr der Ringe – Die Rückkehr des Königs
Michael Ende, Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer
H.C. Artmann, Frankenstein in Sussex
Salman Rushdie, Die satanischen Verse
Hans Fallada, Kleiner Mann – was nun?
Johann Wolfgang von Goethe, Die Wahlverwandtschaften
Elfriede Jelinek, Lust
Kurt Vonnegut, Zeitbeben
Ror Wolf, Die Vorzüge der Dunkelheit
T.C. Boyle, Wassermusik
Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Virginia Woolf, Orlando
Joanne K. Rowling, Harry Potter und die Heiligtümer des Todes
James Joyce, Ulysses
Text für Albert Handlers Beitrag „Hinten" im Magazin VORN,
Ausgabe Februar 2014