Essay über die Kritikbilder von Michael Endlicher
Hat man das letzte Wort, so gibt es keine Widerworte mehr. Ist einmal das letzte Wort gesprochen, so hat sich alles entschieden. Es gibt nichts Weiteres mehr zu sagen oder zu besprechen. Aus einem Gefühl der Zufriedenheit heraus, weil alles gesagt ist, was gesagt werden sollte. Oder aus Verzweiflung, weil es sich nicht sagen lässt. Das wissen wir nicht. Auf jeden Fall ist es das letzte Wort gewesen. Und ob es das letzte bleiben wird, das wird sich erweisen. Im Laufe der Zeit, im Laufe der Geschichte, die ihre eigenen Worte findet.
Das Bild hat immer das letzte Wort. Eines der Bilder von Michael Endlicher wird von diesem Satz getragen. Und die Paradoxie fasziniert. Das letzte Wort, das immer das Bild hat, ist zum Bild geworden als Wort. Wer diesen Satz geschrieben hat, es war Roland Barthes, das erfährt man nicht. Die Worte werden nicht zitiert. Worte werden vielmehr aufgefunden, als geschriebene, als überlassene. Und dann werden sie einer bildlichen Verwendung zugeführt. Es ist aber nicht unbedingt die Magie der letzten Worte, die Michael Endlicher in seinem Malen fasziniert, sondern es sind prinzipiell Worte, vielmehr satzgewordene Worte, mit denen er seine Bilder malt. Ohne Worte, keine Bilder. Aber ohne Bilder auch keine Worte. Ohne Bild würden sich die Worte nie in dieser Form kenntlich machen, nie als Malerei zur Erscheinung bringen können. Und nun sind es nicht einfach irgendwelche Sätze, die Endlicher nimmt, um sie zum Bild werden zu lassen. Vielmehr sind es die Worte anderer, es sind die Worte von Kunstkritikern und Kunsttheoretikern, von Philosophen und Kulturtheoretikern. Worte, die über Kunst, Worte, die über Malerei geschrieben wurden, in einem anderen Zusammenhang. Sätze, die aus dem Kontext des Sprechens über die Kunst kommen. Worte der Reflexion. Und diese Worte finden ihren Weg zurück in die Kunst. Direkt, gemalt, ganz konkret, abgeschrieben und aufgeschrieben. Diese Sätze werden aus ihrem wörtlichen Kontext herausgelöst. Sie sind nicht mehr von Text umgeben. Sie werden zum Bild. Als Satz, gesetzt in Malerei, aufgelöst in gemalte Buchstaben. Die Schrift bestimmt die Bilder. Die Bilder tragen die Schrift. Die Sprache der Kunst spiegelt sich in den Zeichen der Theorie. Die Zeichen der Kunst spiegeln sich in der Sprache der Theorie. Diesseits und jenseits des Gesagten zeigt sich die Kunst. In dem Akt des Spiegelns, dem wechselseitigen, liegt eine Distanz. Die Distanz der Reflexion. Endlicher bringt die Worte zum Sprechen, als Bilder. Zugleich aber verlangt er ihnen ein neues Sprechen ab, ein Sprechen, das sich als Bild behaupten muss, ein Sprechen, das ohne das Setting der Theorie auskommen muss. Eine Umgebung, in dem die Worte bei sich bleiben und zugleich mit einer neuen, einer anderen Form der Betrachtung ausgestellt werden. Abschreiben. Nachlesen. Nachschreiben. Ablesen. Es ist eine Struktur der Wiederholung, in denen sich Endlichers Bilder bewegen. Etwas einmal Gelesenes, etwas Aufgefundenes wird neu geschrieben, wird in neuen Zeichen ins Bild gesetzt. Ich glaube noch darauf hinweisen zu müssen, dass viele Schriftsteller diesen Versuch abgeschrieben haben, denn man könnte glauben, dass ich sie selber abschreibe, wenn ich über die Kunst zu denken schreibe.
Sprechen über Kunst ist ein Spiel mit eigenen Regeln. Das Sprechen über Kunst steht in einer langen Tradition, in einer langen und mächtigen Geschichte des Sprechens über Kunst. In dieser Tradition stehend ist das letzte Wort nie gefallen, kann das letzte Wort nie gefallen sein. Jede Zeit schreibt in ihrem eigenen Stil, in ihrer eigenen Sprache über Kunst. So wie diese Sprache mit einem Fuß fest in der Gegenwart des Sprechens steht, steht sie mit dem anderen in den Kodierungen und Überlieferungen der Tradition. Im Sprechen über Kunst, in den entstehenden Texten, gehen die Kritikerinnen und Kritiker, die Theoretikerinnen und Theoretiker mit beiden Beinen. Manchmal verlagern sie das Gewicht, es fließt mehr Gegenwart ein ins Schreiben, es fließt mehr Vergangenheit ein ins Gegenwärtige. Spielbein, Standbein, ständiger kritischer Wechsel. Jedes Werk, jeder Text, der über Kunst geschrieben wird, steht in einer Geschichte. In der Geschichte der Kunst, der Kunsttheorie, der Philosophie, der Kunstgeschichte, der Sozialgeschichte. Es sind lebendige Räume mit großen Fenstern, die von den Schreibenden mit großen Schritten durchmessen werden. In diesen Texten nimmt Michael Endlicher seine Wanderungen auf und wird fündig. Er sucht Worte aus, ihn finden Worte über Kunst. Worte, die ihn anziehen, Worte, die rätselhaft bleiben, Worte, die um Verständnis ringen, Worte, die weit in das Bild hineinragen, Worte, die weit über das Bild hinausweisen. Die Referenz des Sprechens über Werke der Kunst erschöpft sich nie in einer bloßen oder reinen Beschreibung, sondern vielmehr im Aufspannen eines Feldes ästhetischer und philosophischer Betrachtungen und Reflexionen. Zugleich wäre die Behauptung der reinen Beschreibung eine vermessene. Immer gesellt sich im Schreiben etwas zum Beschriebenen hinzu. Es wird etwas Neues hergestellt, in den Worten über die Kunst etablieren sich Betrachtungsweisen und zentrale Blickpunkte, kristallisieren sich Traditionen des Schauens und des Eindrucks heraus. Kunst entsteht in den Augen der Betrachterinnen und Betrachter, noch einmal. Dieser Augenblick des Entstehens, diese betrachtenden Blicke finden Eingang in das Schreiben über Kunst, auch in jede noch so nahe am Werk selbst bleibende Beschreibung. Bezüge und Verweise werden hergestellt. Die Werke gehen ins Netz. Ins Netz der kunsthistorischen Einbettung, ins Netz der kodierten Sprache der Kunsttheorie. Diese Sprache stellt Übereinkünfte her. Das kunstgeschichtliche Inventar schreibt sich voran, schreibt sich aber selbst wiederum auch in die Kunstdiskussion ein. Die Praxis der Theorie mündet in die Praxis des Kunstmachens selbst. Wechselseitige Reflexion, auch hier, ein Spiegelverhältnis. Diesem Verhältnis ist Michael Endlicher in seinem Arbeiten auf der Spur, bildlich, wörtlich. In den 90er Jahren rückten Kunst und die Diskussion über Kunst einander auf den Leib. Es wird gar davon gesprochen, dass Künstlerinnen und Künstler im ausgehenden 20. Jahrhundert personifizierte Wiederaufbereitungsanlagen der Kunstgeschichte wären. Drastische Worte, die auf die Macht des geschichtlichen Diskurses verweisen, einerseits. Andrerseits zeigt sich das Nahverhältnis zwischen den Reflexionsräumen der Kunst und der Kunstgeschichte. Ein theoretisches wie ein praktisches Verhältnis. Radikale Utopien stellen sich eine Kunst ohne Sprechen über die Kunst vor. Eine Kunst, die nicht der erklärenden Worte bedarf, in der Worte über Kunst, Worte über Worte keinen Ort haben sollten. In dieser Gesellschaft gilt jedweder Diskurs, sei er mündlich oder schriftlich über ernstzunehmende Bücher oder Gemälde oder Musikstücke als illegales Geschwätz.
Manche von Endlichers Bildern gemahnen an archäologische Fundstücke. Schrifttafeln, geborgen aus den Sedimenten des Bestands. Schrift, die zum Bild geworden ist. Bilder als Schriftstücke, Schriftstücke als Bilder. Etwas wird uns ins Gedächtnis gerufen mit diesen Worten, aufgezeichnet, abgeschrieben. Die Worte, die Sätze sie werden uns gegenwärtig überliefert. Als Fundstücke, ohne Nennung eines Autors. Eigenmächtiger Text, zum Sprachbild geworden. Kann man ein Archiv ohne Grundlage, ohne Träger, ohne Substanz, ohne Subjektil denken? Subjektil, das ist das alte, das vergessene Wort für den Untergrund, auf dem ein Gemälde erst aufgetragen wird, auf dem ein Bild erst entstehen kann. Das Bild, das vor dem Erscheinen des Bildes die materielle Grundlage für das Auftragen, für das Entstehen eines Bildes bildet. Überträgt man diese Denkfigur auf die Bilder von Michael Endlicher, was wären sie dann, seine Bilder? Bilder ohne die Spur der Schrift, Bilder ohne die Einschreibung der Zeichen in den Untergrund. Ohne Untergrund, keine Bilder. Ohne Einschreibung, kein Erscheinen der Bilder auf ihrem Untergrund. Der erste Eindruck der Schrift, er kann nur entstehen auf einem Untergrund. Aus dem Untergrund erwächst die Schrift, auf dem Untergrund hinterlässt sie einen bleibenden Eindruck. Und mit Nachdruck lässt sich die Schrift nieder in den Augen der Betrachterinnen und Betrachter. Und dennoch, es gibt ein Changieren zwischen dem ersten Eindruck der Schrift und dem zweiten Eindruck des Wechselspiels zwischen Untergrund und Schrift. Und im Anblicken gibt es ein Changieren zwischen dem schriftlichen Eindruck und dem Nachdruck der Einschreibung.
Diese Markierungen auf dem Subjektil, die Einschreibungen der Zeichen, die nur auf dem Untergrund zu Worten werden können, die sich als Aufzeichnungen an der Oberfläche zur Erscheinung bringen, werden im wahrsten Sinn des Wortes als Bilder lesbar. Aber in den zum Bild gewordenen Worten ändert sich der Akt der Lektüre. Wir lesen und gleichzeitig schauen wir. Wir schauen und gleichzeitig lesen wir. Und wir können in einen Zustand zurückkehren, an dem wir Worte nicht lesen müssen, wie es schriftliche Zeichen sonst mit Vehemenz einfordern, sondern wir können beim Schauen, beim Bildbetrachten, bei der Zeichenhaftigkeit verweilen. Die Worte werden zum Bild, und sie verbleiben im Bild. Bild gewordene Worte, Wort gewordene Bilder. Dieses Verhältnis, und es ist kein einfaches, treibt sein Wahrnehmungsspiel mit uns. Und so hat das Bild immer das letzte Wort, um den Eindruck des Anfangs wieder aufzugreifen. Aber das letzte Wort wird nie gefallen sein.
Abbe de Condillac, De l'art de penser
Marius Babius, Im Zentrum der Peripherie über die Kunstvermittlung und Vermittlungskunst in den 90er Jahren
George Steiner, Von realer Gegenwart
Jacques Derrida, Dem Archiv verschrieben
Elke Krasny, 2003. Kulturtheoretikerin, Künstlerin, Ausstellungsmacherin, Autorin. Zahlreiche Ausstellungen und Publikationen zu Architektur, Kulturgeschichte und Gegenwartskunst, partizipatorische Kunstprojekte.